Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800

Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800

Organisatoren
Tobias Döring; Barbara Vinken; Günter Zöller; DFG-Forschergruppe "Anfänge (in) der Moderne", LMU München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.01.2008 - 11.01.2008
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Von
Margret Fetzer, Department für Anglistik und Amerikanistik, Ludwig-Maximilians-Universität München

"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" – so konstatiert zumindest Hermann Hesse in seinem Gedicht "Stufen". Doch erweisen sich die meisten Anfänge bei genauerem Hinsehen nicht selten als die Übertragung oder Wiederholung von etwas Vorausgegangenem. Dieser Spannung zwischen gesetztem Anfang und unwillkürlicher oder auch bewusster Wiederholung, Fortsetzung, Nachahmung oder 'translatio' nachzugehen war das Interesse des internationalen und interdisziplinären Symposiums zum Thema "Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800", das vom 9. - 11. Januar in München stattfand. Veranstaltet wurde die Tagung von der DFG-Forschergruppe "Anfänge (in) der Moderne", die Leitung hatten TOBIAS DÖRING (englische Literaturwissenschaft), BARBARA VINKEN (französische Literaturwissenschaft) und GÜNTER ZÖLLER (Philosophie). Vor allem der Rückgriff auf die antike Reichsidee römischen Ursprungs, aber, wenn auch seltener, auf das Ideal der griechischen Antike sollte sich hier als besonders fruchtbar erweisen.

In ihrem höchst gelungenen Vortrag "Refoundation Already at Rome" machte MICHÈLE LOWRIE deutlich, dass sich schon die Römer selbst intensiv mit der Frage des eigenen Ursprungs auseinander setzten. Lowrie betonte, dass, auch wenn jeder Gründungsakt, jede "foundation" notwendigerweise auf Vorheriges zurückgreifen müsse, das performative Potential jeder Neusetzung dennoch nicht zu unterschätzen sei und dass schon im alten Rom sehr bewusst mit der Wiederaufarbeitung und Wiederholung von Anfängen operiert wurde. Interessanterweise, so Lowrie, beurteilten viele römische Staatsgelehrte die Erkenntnis, dass die ewige Stadt Rom mehrere (Be-)Gründungsverfahren erlebt hatte, als äußerst positiv: Cicero zum Beispiel hielt es für selbstverständlich, dass kein einzelner je all das hätte berücksichtigen können, was für die Gründung und Erhaltung der Stadt Rom und das römische Weltreich notwendig gewesen wäre, und Livius argumentierte, dass die "urbs aeterna" Roms neue Entwicklungen und Anfänge zulassen musste, um überhaupt ewig erhalten bleiben zu können. Wie Lowrie betonte, war die Neusetzung verschiedener Anfänge nicht selten mit Gewalt verknüpft - am prominentesten im Fall des Brudermords des Romulus an Remus. Auch entzieht sich der politische Umgang mit dem Anfang häufig der Kontrolle durch den Herrschenden: so wurde Kaiser Augustus zum Beispiel, trotz seiner höflichen Ablehnung, vom Volk bald der Titel eines "pater patriae" verliehen. Auch das Jahrhundertlied ("century song") des Horaz scheiterte an dem ihm zugedachten Gründungsanspruch – kein performativer Akt, so Lowrie, kann je (be)gründend sein, wenn ihm nicht die Gunst der Übertragung ("transmission") und Wiederholung der Folgegeneration zuteil wird.

Um Generationenverhältnisse ging es auch bei BERNHARD TEUBER, der sich, als Experte für die französische Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, mit der modernen Staatstheorie bei Montesquieu und Rousseau beschäftigte, speziell im Hinblick auf deren Rezeption des römischen Reiches. Teuber zeigte, dass Montesquieu, im Rückgriff auf Ovid, dessen "...prolem sine mater creatam." (Ovid, Metamorphosen, Buch IV, 553) er sich als Motto wählt, seine eigene Staatstheorie bewusst als mutterlos zu inszenieren versuchte. Diese 'Entmütterlichung' und damit verbundene 'Verväterung' der Staatstheorie bei Montesquieu begründete Teuber damit, dass dieser sich dadurch von der fatalen Entwicklung des römischen Reichs abzugrenzen versuchte, dessen Untergang er der Dominanz weiblichen/weibischen Luxustrebens zuschrieb. Während römische Mythen die Mutter in Form der Vestalin, mit der sich Mars vereinigte, oder auch als capitolinische Wölfin zuließen, suchte sich Montesquieu von dieser Tradition abzugrenzen. Jedoch verstrickte er sich dabei, wie Teuber überzeugend zu zeigen verstand, in Widersprüche - entstammt das ovidsche Motto selbst doch gerade jenem Schoß der 'Mama Roma', von dem sich Montesquieu zu emanzipieren hoffte. Die Tradition des römischen Reichs artikuliert sich also unbewusst und unwillkürlich, und zwar, wie Teuber schloss, nicht nur bei Montesquieu, sondern auch bei Rousseau.

War Rom das uneingestandene Original, an dem sich die europäische moderne Staatstheorie abarbeitete, so spielte Europa selbst eine nicht weniger bedeutsame Rolle für die "Selbsterfindung in der amerikanischen Aufklärung", die Gegenstand des Vortrags von KLAUS BENESCH war. Aber auch Klassiker der antiken Literatur, so Benesch, waren für das amerikanische Selbstverständnis des 18.Jahrhunderts prägend - doch sollten diese im 19. und 20. Jahrhundert relativ plötzlich an Bedeutung verlieren. Diese Entwicklung scheint nicht zuletzt damit zusammenzuhängen, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts Benjamin Rush eine Vorstellung von Amerikanern als "republican machines" prägte, deren mechanistische Charakteristika Benesch auch in Benjamin Franklins Biographie und Epitaph, in dem sich der Autor als immer wieder neu zu verbesserndes, zu edierendes und dann erneut zu druckendes Buch figuriert, identifizierte. Das amerikanischen Subjekt der Aufklärung generiert sich folglich zunehmend als verbesserte Neuauflage antiker Muster, weswegen die Druckerpressen des 19. und 20. Jahrhundert sich immer weniger den antiken Klassikern denn der Literatur und den politischen Pamphleten der Gegenwart zuwandten.

Während sich die meisten Vorträge an der Idee einer wie auch immer gearteten, bewussten oder unterdrückten, in jedem Fall aber in gewisser Weise linearen 'translatio imperii' orientierten, führte CORDULA LEMKE in ihrem Vortrag "Nationalsammlung: Zusammengetragene Anfänge im schottischen Antiquarianism um 1800" den Begriff des Sammelns ein und eröffnete somit eine ganz neue Perspektive auf die Vorstellung vom Anfang. Bestand Sammeln und Antiquarianismus im 18. Jahrhundert noch aus einem bewusst ungeordneten Zusammentragen von Disparatem, das sich vom hierarchisch ordnenden Vorgehen der Geschichtsschreibung deutlich absetzte, so näherten sich diese beiden Bewegungen durch die Einrichtung öffentlicher Archive allmählich aneinander an, so dass Sammeln und Archivieren bald zu einer neuen einflussreichen Art der Geschichtsschreibung wurden. Im Rückgriff auf Walter Scotts The Antiquary und James Macphersons Ossian-Epos zeigte Lemke, wie das Sammeln antiquarischer Gegenstände wie auch die Kombination unterschiedlichster Mythen politisch nutzbar gemacht werden können: beide erwehren sich durch die Strategie des Sammelns der englischen Kolonialmacht, bei Scott eher im Sinne der schottischen Lowlands, bei Macpherson eher für die Interessen der Highlands.

Um koloniale Machtausübung ging es auch bei ANGELA ESTERHAMMER, die sich mit der problematischen Aneignung der Akropolis-Statuen und deren Abtransport nach England durch Lord Elgin im Jahr 1816 beschäftigte. Wie Esterhammer anhand einschlägiger Textbeispiele illustrierte, waren zeitgenössische Literatinnen und Literaten höchst uneins darüber, ob es sich bei Lord Elgins Akquisition um einen bewahrenden oder vielmehr zerstörenden Akt handelte. Während sich Felicia Hemans hierzu uneingeschränkt positiv äußerte, war John Keats Gedicht "On Seeing the Elgin Marbles" wesentlich weniger eindeutig. Lord Byron schließlich kritisierte das Projekt Lord Elgins in "The Curse of Minerva" aufs schärfste, indem er argumentierte, dass man die Skulpturen – so wie er – in ihrer ursprünglichen Umgebung wahrnehmen müsse. Zwar mag diese Begegnung mit dem Original nicht jedem möglich sein – doch, so Byron in seinem Gedicht, vermag das Medium der Lyrik - nicht zuletzt seiner eigenen – diese Erfahrung ja jedem zugänglich zu machen. Wie Esterhammer anhand von Zitaten anschaulich vermittelte, brandmarkt Byron seine Dichtung durch diese Aussage aber unweigerlich (und wohl auch bewusst) als Ware ("commodity") mit kommerziellem Nutzen. Kunst, hier die lyrische, wird und soll nun in ähnlicher Weise vermarktet werden wie die antiken Statuen, deren Musealisierung durch die britische Imperialmacht Byron ja verurteilt hatte.

Obwohl die Idee gerade vom imperialen Reich im Normalfall auf der Vorstellung eines starken und geeinten Ursprungsstaats beruht, der seinen Herrschaftsanspruch dann auf andere, weniger stabile Territorien ausdehnt, zeigte CLEMENS PORNSCHLEGEL, dass der imperiale Gedanke paradoxerweise gerade auch für das, was 1871 überhaupt erst zum deutschen Kaiserreich werden sollte, von gravierender Bedeutung war. Für das, was noch lange kein deutsches Kaiserreich sein sollte, schien sich Schiller, Goethe und Novalis das Bild von der europäischen Vielstaaterei als Identifikationsmöglichkeit geradezu aufzudrängen. Jener Europadiskurs sollte sich in der Folge dann als so tragfähig erweisen, dass sowohl Hugo von Hofmannsthal wie auch Thomas Mann diesen Topos noch im späten 19. und 20. Jahrhundert wiederbelebten. Die Ambivalenz des Modells Europa für deutsche Selbsterkenntnis ist, wie Pornschlegel deutlich machte, kaum zu überschätzen: im besten Fall ergibt sich daraus ein kosmopolitisches Kulturbewusstsein, im schlimmsten Fall jedoch schlägt es sich als radikales Bekenntnis zur völkischen Herrschaft Deutschlands über Europa nieder.

Über den (vor-)deutschen Europadiskurs wollte man "Das Reich wieder holen" – und um das "Wieder holen" des Vorausgegangenen, des 'Originals' ging es auch Joseph de Maistre und Edmund Burke, zwei Vertretern der Gegenaufklärung, die den Gegenstand von HELMUT PFEIFFERS Ausführungen bildeten. Nicht zuletzt im Rückgriff auf Burke, der ihm laut Pfeiffer als unmittelbare Quelle gedient hatte, betonte le Maistre, dass Souveränität grundsätzlich gegeben und nicht (künstlich) herstellbar sei, dass auch der Mensch also nur dann Mensch sei, wenn er nicht autonom aufträte. Auch Burke zufolge handelte es sich bei der französischen Revolution um einen Akt der Usurpation, eine unberechtigte Eigen-Anmaßung der Souveränität, im Zuge dessen die wahren Zeichen profaniert, die falschen hingegen sakralisiert worden waren. Obwohl von Pfeiffer so nicht explizit argumentiert, lässt sich hieraus schließen, dass zumindest diese beiden Vertreter der Gegenaufklärung von einem einmaligen Anfang und Original ausgingen, das von keinem revolutionären Neuanfang je abgelöst werden dürfte noch könnte.

Die drei philosophischen Vorträge von VIOLETTA WAIBEL, ANDREA ESSER und GÜNTER ZÖLLER setzten sich auf jeweils unterschiedliche Weise mit dem Begriff des Reichs auseinander. Leider gelang es hier nicht immer, für den interdisziplinären Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Fülle der sicherlich durchaus lesenswerten Zitate von Hölderlin und Hardenberg (Novalis) im Vortrag VIOLETTA WAIBELS beispielsweise machte es fachferneren Tagungsteilnehmern nicht leicht, selbst mitzuverfolgen, inwiefern die Relevanz von Gefühl, Sinnlichkeit und neuer Religion bei Hölderlin nun ausgeprägter war als bei Hardenberg (Novalis). Auch erschloss sich für ein nicht gleichermaßen informiertes Publikum nur schwer, inwieweit diese Thematik mit dem Tagungsthema in Zusammenhang stand. ANDREA ESSER dagegen zeigte sehr erfolgreich, wie Kants "Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit" einer weiteren Zuhörerschaft verständlich zu machen sind. Sie unternahm hierzu eine genuine Neu-Interpretation, indem sie Kants 'Reich der Zwecke' nicht nur anti-imperial, sondern auch als von Kants Freiheitsbegriff bestimmt verstand und dort darüber hinaus eine Bewegung ausmachte, die statt eines individualistischen Konzepts von Autonomie eine interpersonelle Vorstellung des Autonomiegedankens zur Geltung bringt. Während sich an Essers Vortrag einigen Nachfragen bezüglich der praktischen Anwendbarkeit der Idee Kants vom 'Reich der Zwecke' anschlossen, setzte sich GÜNTER ZÖLLER primär mit Fichtes Staatslehre auseinander, also demjenigen Werk Fichtes, das sich am ehesten dem Bereich der angewandten Philosophie zuordnen lässt, da es sich gerade Problemen der Umsetzbarkeit annimmt und den Geschichtsverlauf unter dem Blickwinkel der Rechtsidee analysiert. Fichtes Vorstellungen von einem 'Zwingherrn', der zur Durchsetzung und Wiederherstellung der Gleichheit notwendig sei, wie auch von der Auseinandersetzung der zwei Urgeschlechter, das eine durch Offenbarung erleuchtet, das andere von wilder Freiheit, lassen vermuten, dass sich Fichte der Schwierigkeiten der Umsetzbarkeit seiner Rechtsidee tatsächlich durchaus bewusst war.

Insgesamt kann die Münchner DFG-Forschergruppe "Anfänge (in) der Moderne" auch in diesem Jahr auf ein sehr ergiebiges Symposium zurückblicken, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sich die meisten Vorträge bei aller Vielfalt sehr produktiv ergänzten. Dies ließ sich an der Lebhaftigkeit der Diskussionen erkennen, wo die einzelnen Forschungsanliegen häufig verknüpft und in breitere Kontexte gestellt wurden. Gerade deswegen hätte man sich beinahe noch etwas mehr fachliche Vielfalt gewünscht – so war die Germanistik zum Beispiel nur durch Clemens Pornschlegel vertreten, und der Beitrag der Theologie und Kunstwissenschaft fehlte leider ganz. Allerdings stellt die Vielfalt der vertretenen Disziplinen natürlich auch eine gewisse Herausforderung dar, was vor allem bei den philosophischen Beiträgen deutlich wurde, deren wissenschaftlicher Diskurs sich maßgeblich von dem der Literaturwissenschaft unterschied. Doch gerade das Thema des Anfangs eignet sich, wie dieses Symposium demonstriert hat, bestens, um auch im Blick auf interdisziplinäre akademische Zusammenarbeit einen Anfang zu machen, der nach Fortsetzung, Wiederholung, Nachahmung und 'translatio' ruft.

Konferenzübersicht:

Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800

Michèle Lowrie, New York University - "Refoundation Already at Rome"
Bernhard Teuber, Ludwig-Maximilians-Universität München - "Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? Montesquieus Rückschau auf das Römische Reich und dessen unheimliche Wiederkehr bei Rousseau."
Klaus Benesch, Ludwig-Maximilians-Universität München - "Republican Machines. Selbsterfindung in der amerikanischen Aufklärung."
Cordula Lemke, Ludwig-Maximilians-Universität München - "Nationalsammlung. Zusammengetragene Anfänge im schottischen Antiquarianism um 1800."
Angela Esterhammer, University of Western Ontario / Universität Zürich - "Byron in the Eastern Mediterranean. Translating the Ruins of Empire."
Andrea Esser, Philipps-Universität Marburg - "Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit. Kants Begriff eines 'Reichs der Zwecke'."
Violetta Waibel, Universität Wien - "'Sagen der Zukunft - tausendjähriges Reich. Neue Religion' - 'Sie werden nicht glüklicher seyn, aber edler, nein! auch glüklicher.' Hölderin und Hardenberg (Novalis). Anti-imperiale Anfänge?"
Günter Zöller, Ludwig-Maximilians-Universität München - "'Freiheit aller von der Freiheit aller'. Das Reich des Rechts in Fichtes geschichtsphilosophischer Staatslehre."
Clemens Pornschlegel, Ludwig-Maximilians-Universität München - "Das Reich wieder holen. Zum Europa-Diskurs der klassisch-romantischen Bildung."
Helmut Pfeiffer, Humboldt-Universität zu Berlin, "Die Aufhebung der Revolution / Gespaltene Anfänge. Strategien der Gegenaufklärung bei de Maistre und Burke."


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